Vier Handelsriesen, ein Markt – und viel Macht
An einem ganz gewöhnlichen Samstagvormittag schiebt sich der Strom der Einkaufswägen durch die Türen einer großen Supermarktkette. Drinnen: grelles Licht, Aktionsaufsteller, „Dauer-Tiefpreise“ in großen Lettern. Wer hier einkauft, steht mitten in einem Konflikt, der selten sichtbar ist:
Wer bestimmt eigentlich, wie unsere Lebensmittel produziert werden – und zu welchen Bedingungen?
Im deutschen Lebensmitteleinzelhandel teilen sich vier Konzerne den größten Teil des Marktes: Edeka (mit Netto), Rewe (mit Penny), die Aldi-Gruppe und die Schwarz-Gruppe mit Lidl und Kaufland. Über 85 Prozent des Umsatzes im LEH laufen über ihre Kassen. Im Fachjargon heißen sie die „Big Four“.
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Sie setzen Preise.
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Sie bestimmen Sortimente.
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Sie verhandeln mit Lieferanten aus einer Machtposition heraus, von der kleinere Betriebe nur träumen können.
Eine Analyse des Forum Fairer Handel zeigt, wie weit diese Macht reicht. Die großen Handelskonzerne sind längst nicht mehr nur Händler, sondern zugleich Hersteller: Mit ihren Eigenmarken lassen sie Lebensmittel unter eigenen Namen produzieren und ins Regal stellen – und sind damit gleichzeitig Auftraggeber und Abnehmer.
Das verschiebt die Verhältnisse in der Kette. Wer auf der anderen Seite des Verhandlungstischs sitzt – ob Bio-Molkerei, Kaffeerösterin oder Fair-Handels-Unternehmen – spürt den Druck unmittelbar.
„Manchmal fühlt man sich wie austauschbare Ware“
Ein Bio-Verarbeiter, den das Forum Fairer Handel anonym zitiert, bringt es auf den Punkt: Man fühle sich „ausgequetscht wie eine Zitrone“. Preise würden so lange gedrückt, bis kaum Spielraum bleibe – schon gar nicht für faire Löhne oder Investitionen in Umweltstandards.
Die Monopolkommission, ein unabhängiges Beratungsgremium der Bundesregierung, bestätigt in einer Untersuchung: Die Gewinne im Lebensmittelsystem verschieben sich. Während am Anfang der Kette, bei den Landwirt*innen, die Margen sinken, steigen die Aufschläge in Industrie und Handel.
Gleichzeitig sind die Lebensmittelpreise für Verbraucher*innen deutlich gestiegen. Zwischen 2021 und 2024 lagen Steigerungen von rund 30 Prozent im Raum – besonders bei Grundnahrungsmitteln.
Die naheliegende Frage lautet:
Wer zahlt am Ende den Preis – und wer profitiert von unserem täglichen Einkauf?
Und noch eine zweite Frage stellt sich:
Wie können solidarische Strukturen dieser Entwicklung etwas entgegensetzen?
Eine andere Erzählung: Die Geschichte von TAGWERK
Um Antworten zu finden, lohnt der Blick dorthin, als bei TAGWERK alles anfing: in die 1980er-Jahre, vor den Toren Münchens. Einige Bio-Bäuer*innen und engagierte Verbraucher*innen wollten damals eine Alternative zur industriellen Landwirtschaft und zur anonymen Ware im Supermarkt schaffen.
Sie gründeten TAGWERK: eine Verbraucher- und Erzeugergenossenschaft, in der sich Menschen entlang der gesamten Wertschöpfungskette zusammenschließen – von der Ackerfurche bis zur Ladentheke. Ökologische Landwirtschaft, handwerkliche Verarbeitung und regionale Vermarktung sollten nicht gegeneinander ausgespielt, sondern solidarisch organisiert werden.
Heute ist aus dieser Idee ein dichtes Netzwerk geworden:
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rund 150 TAGWERK-Betriebe – vom kleinen Hof mit alten Getreidesorten über handwerkliche Bäckereien und Käsereien bis zur TAGWERK-Biometzgerei,
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dazu sieben TAGWERK-Biomärkte und weitere Partnerläden in der Region.
Der Anspruch war von Anfang an ein anderer als in der Welt der Big Four:
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Lebensmittel sollen nicht einfach „Ware“ sein.
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Preise sollen reale Kosten abbilden – auch für Boden, Tiere und Menschen.
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Die Wertschöpfung soll in der Region bleiben – und möglichst gerecht verteilt werden.
TAGWERK ist damit mehr als ein regionaler Anbieter. Die Genossenschaft ist ein solidarischer Gegenentwurf zur Logik eines Marktes, in dem die stärksten Akteure die Bedingungen diktieren.
Solidarität auf dem Acker und im Markt
Wer an einem Morgen im Herbst auf einem TAGWERK-Hof unterwegs ist, sieht schnell: Faire Preise und Solidarität sind kein abstraktes Programm. Sie entscheiden ganz konkret darüber,
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ob ein Betrieb in neue, tiergerechte Ställe investieren kann,
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ob Auszubildende übernommen werden,
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ob vielfältige Fruchtfolgen und Artenvielfalt langfristig finanzierbar sind.
Die Betriebe im TAGWERK-Netzwerk kalkulieren anders als der Weltmarkt:
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Öko-Auflagen, Tierwohlstandards und vielfältige Fruchtfolgen sind bewusst gewählte Mehrarbeit – getragen von der Zusage der Gemeinschaft, diese Qualität mitzutragen.
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Die Abnahme über TAGWERK-Strukturen schafft Planungssicherheit: Höfe wissen, dass sie nicht allein im Risiko stehen, sondern Teil eines Verbunds sind.
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Statt jährlich neu um Listungen zu zittern, geht es um langfristige Partnerschaften, in denen gemeinsam nach Lösungen gesucht wird – etwa bei Ernteausfällen oder Kostenschüben.
Solidarität zeigt sich hier nicht in großen Worten, sondern im Alltag: in fair verhandelten Preisen, in Absprachen, die halten, und in der Bereitschaft, Risiken und Chancen entlang der Kette gemeinsam zu tragen.
Was „fair“ bei TAGWERK im Alltag heißt
„Fair“ klingt idealistisch – ist aber eine harte Systemfrage. Die Analyse des Forum Fairer Handel zeigt: Unternehmen, die hohe soziale und ökologische Standards einhalten, geraten im gnadenlosen Preiswettbewerb schnell unter Druck, wenn sie alleine stehen.
TAGWERK setzt dem eine solidarische Praxis entgegen. Sie zeigt sich in drei Bereichen besonders deutlich:
1. Keine Preisschlachten – faire Preise als gemeinsame Vereinbarung
TAGWERK verzichtet bewusst auf Angebote, die unterhalb realistischer Produktionskosten liegen. Lebensmittel sollen ihren Wert behalten – für diejenigen, die sie erzeugen, und für diejenigen, die sie essen. Dahinter steht ein stilles Abkommen zwischen Höfen, Verarbeiter*innen, Handel und Kundinnen: Wir verzichten auf den billigsten Preis, um eine faire Basis für alle zu sichern.
2. Transparente Herkunft – Beziehungen statt Anonymität
Statt anonymer Eigenmarken stehen konkrete Betriebe im Vordergrund. Auf Plakaten, in der TAGWERK-Zeitung und im Gespräch im Markt wird erzählt, wer hinter dem Brot, dem Käse oder der Wurst steht. Aus der „Black Box Supermarkt“ wird ein Geflecht aus Beziehungen.
Transparenz ist hier mehr als Information – sie stiftet Verbundenheit und macht Solidarität sichtbar.
3. Gemeinwohlorientierte Gewinne – Überschüsse für das Wir
Überschüsse fließen zurück in Strukturen der Region: in die Genossenschaft, in Bildungsarbeit, in politische Interessenvertretung für eine faire Agrar- und Ernährungspolitik. Gewinne sind kein Selbstzweck, sondern Mittel, um das Netzwerk stabiler und gerechter zu machen – für Produzent*innen, Beschäftigte und Verbraucher*innen.
All das ist leiser als bundesweite Werbekampagnen der Handelsriesen. Aber es verändert konkret, wie sich eine Region versorgt – und wie Verantwortung geteilt wird.
Kund*innen als Mitspieler*innen – gelebte Ernährungsdemokratie
Zurück in den TAGWERK-Märkten: Wer hier einkauft, ist für TAGWERK nicht einfach „Zielgruppe“, sondern Teil einer Wertschöpfungsgemeinschaft.
Mit jedem Einkauf entscheiden Kund*innen mit:
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Wer behält wie viel Macht in der Kette?
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Wer kann von seiner Arbeit leben?
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Welche Formen von Landwirtschaft und Verarbeitung haben eine Zukunft?
Wer sich an TAGWERK beteiligt – durch den Einkauf, eine Genossenschaftsmitgliedschaft oder ehrenamtliches Engagement – stärkt eine Struktur, in der Teilhabe wichtiger ist als Marktanteil.
Während die Big Four auf Skaleneffekte und Preisdruck setzen, beruht das TAGWERK-Modell auf etwas anderem: auf gegenseitigem Vertrauen, auf geteilten Werten und auf der Bereitschaft, Handlungsspielräume gemeinsam zu erkämpfen – entlang der ganzen Kette.
Und die Politik? Solidarische Modelle brauchen Rückenwind
Das Forum Fairer Handel fordert eine Reformagenda: strengere Regeln gegen unfaire Handelspraktiken, mehr Eingreifen des Bundeskartellamts, notfalls auch strukturelle Eingriffe, wenn Marktmacht demokratische Spielregeln außer Kraft setzt.
Aus TAGWERK-Perspektive geht es dabei um mehr als klassischen Wettbewerb. Es geht um die Frage, ob genossenschaftliche, solidarische Modelle überhaupt eine realistische Chance haben, neben Konzernen zu bestehen, die mit ihrer Marktmacht Preise, Standards und Sichtbarkeit prägen.
Ohne klare politische Leitplanken laufen viele Initiativen Gefahr, auf lokaler Ebene gegen strukturelle Übermacht anzukämpfen – mit viel Engagement, aber begrenzten Ressourcen.
Damit solidarische Ernährungsstrukturen wachsen können, braucht es:
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verlässliche politische Rahmenbedingungen, die faire Preise und hohe Standards stärken statt bestrafen,
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eine Kartell- und Agrarpolitik, die Vielfalt in der Wertschöpfungskette schützt,
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öffentliche Beschaffung (Kitas, Schulen, Kliniken), die gezielt mit regionalen, ökologischen und gemeinwohlorientierten Anbietern arbeitet.
Politik und Zivilgesellschaft sind hier Verbündete: Nur gemeinsam lässt sich ein Markt verändern, der sonst vor allem den Stärksten nützt.
Quellen:
- Forum Fairer Handel (Hrsg.) 2025: "Die Macht der Big Four. Der Einfluss der vier großen deutschen Supermarktketten auf die Lebensmittellieferketten" (PDF)
- Forum Fairer Handel & Oxfam Deutschland (Hrsg.) 2025: "Ausgequetscht wie eine Zitrone" (PDF)
- "Monopolkommission 2025: Wettbewerb in der Lebensmittellieferkette. Sondergutachten 84" (PDF)






